Donnerstag, 14. Januar 2010

Fallengelassen und liegen geblieben

Er schleppt seine angeschwollenen Füße über den erbarmungslosen Beton. Die Schuhe haben den Widrigkeiten längst nachgegeben und er hofft dass seine Füße es ihnen nicht gleich tun. Er hat sich über die Zeit an so viele Schmerzen gewöhnt, von denen er früher nicht einmal erwartet hätte, sich mit derartigen auseinandersetzen zu müssen. Überhaupt eröffnet einem die Situation eine oftmals ganz neue Sicht auf die Dinge. Wie soll man schon damit rechnen, auf der Straße zu landen? Es passiert halt. Könnte man es planen, so würde man es doch nicht tun. Wenn man erst einmal draußen sitzt, hat man sein Sparschwein bereits geschlachtet. Nach dem Schlachter wird man zum Opferlamm.
Aber der Kopf schaltet sich schon wieder ab. Es ist dieses Jahr einfach zu kalt, um ihn auch nur auf Stand-By zu lassen. Eigentlich hat er ganz andere Sorgen, auch wenn er diese gekonnt verdrängt. Letzte Nacht soll es schon wieder Einer nicht geschafft haben. Der Alkohol hilft gegen die Angst, doch nicht gegen die Tatsache. Bisher hat er jede Nacht noch einen warmen Ort gefunden. Aber die Kälte rückt immer näher, das spürt er. Wie ein alter Bekannter, den man nicht kennen will. Doch man hat zu viele gemeinsame Freunde.

Der eiskalte Wind lässt die Ohren unberührt, dank des verkletteten Kunstfells im Inneren der Kapuze. Die Nase jedoch ragt weit heraus und ist längst so weit erhärtet, dass bereits ein Eiszapfen drunter hängt welcher sich mit dem Bart verbunden hat, wie der Dreck auf der Straße mit dem gefallenem Schnee. Auch wenn die Kälte einen ständig zu bekämpfenden Feind darstellt, brennt sich diese Sorge nicht so tief ein, wie es notwendig wäre. Die Blicke der Anderen legen sich wesentlich schwerer auf die verlorene Seele. Aus dem Herzen gefallen. Irgendwann, als man keine Kraft mehr hatte, aufzupassen. Die Blicke derer, die nicht verstehen wollen. Selbst so geängstigt, dass sie den Ekel nicht mehr spüren, sondern nur noch empfinden. Auch wenn sie denken, sie wären schlauer, er nimmt die Beschleunigung ihrer Schritte wahr. Genauso wie die selbstbetrügend ausweichenden Blicke, nachdem sie erst nicht verzichten konnten, doch zu starren. Unterhaltung aus der wahren Unterschicht, für die, welche sich die Bezeichnung selbstgefällig auf die abgehärtete Brust ritzen. Alles so verquer. Verstehen tut er es längst nicht mehr, auch wenn er für vieles eine Erklärung hat. Selbstaufgestellte Theorien, die ihm helfen mit der Welt klarzukommen, die mit ihm nicht mehr klarkommen will. Denn seinen Weg muss er gehen, auch wenn die Füße nicht mehr wollen. Er ist fast angekommen, zumindest für diesen Abend. Nicht mehr weit, dann wird das Schild im Sichtfeld erscheinen, dass ihm Schutz verspricht für die Nacht.

Doch plötzlich wirft ihn eine Schulter aus der Bahn, an die stärkere Arme herangewachsen sind als seine. Er will sich noch entschuldigen, auch wenn er weiß, dass in diesem Spiel die Schuld nicht zählt. Doch bevor die Sprache den Mund verlassen kann, wird selbige schon von steinharter Faust verschlossen. Die Straße scheint sich mal wieder zu reflektieren in den Augen eines leeren Menschen. Solche Geschichten hatte er schon oft gehört, von anderen Liegengelassenen, und immer gehofft es würde nur ein Alptraum bleiben. Doch jetzt, in diesem Moment, sind die Träume so weit weg, wie die Hoffnungen auf einen weiteren Tag.
Er spürt die Rippen brechen als die gestiefelten Füße ihre inhumane Arbeit verrichten. Die erzwungenen Tränen schießen aus den Augen und vermischen sich, auf den Asphalt rinnend, mit dem Blut, welches aus dem Mund tropft, gleich einer herabgefallenen Sprechblase als Ersatz für die verstummten Schmerzensschreie. Mit jedem Tritt spürt er sich selbst ein bisschen mehr verschwinden, wie das Bild vor seinen Augen. Alles um ihn herum wird allmählich grau, das Blut am Boden als letzte Spur immer schwärzer.

Die Stiefel entschwinden langsam, ganz gemächlich. Scheinbar überzeugt von ihrer Arbeit, denn beschämt. Ein paar Reifen zischen vorbei und werfen ihm noch eine Ladung Dreck in´s Gesicht. Selbst in diesem Moment zeigt ihm die Straße, dass er längst ein fester Bestandteil von ihr geworden ist. Fallengelassen und liegengeblieben, wie nutzloser Müll den man unachtsam
entsorgt. Er ist Dreck, warum sollte er auch anders behandelt werden? Er muss akzeptieren, dass er in dieser Wegwerf-Gesellschaft höchstens den Abfall-Eimer zugesprochen bekam und dies auch nur für beschränkte Zeit. Niemand wollte ihn hier haben. Die Stadt war zu klein für sie beide, ihn und den Rest der Welt. Langsam schließen sich die Augen und er findet sich ab mit einem Wert, der ihm nicht zugesprochen wurde.

Erst einige Stunden später, in den ganz frühen Morgenstunden, kurz bevor die Sonne den Anblick noch erschreckender hätte erscheinen lassen, sieht ihn doch noch jemand als Mensch.
Ein letztes Mal ist er jemandem nicht egal und sie ist bereit Emotionen für einen Menschen zuzulassen, den sie nie kennenlernen wird.
Die Tränen tropfen auf den Beton, den selben der schon seine aufgesogen hat. Jetzt wo er nicht mehr ist, ist er endlich nicht mehr alleine.

6 Kommentare:

  1. Interessant das die weiblichen Protagonistin sich dem Opfer annähert....das Weibliche als Reine, Gute? Oder vielmehr: ist hier der Wunsch des Künstlers Vater des Gedankens? Egal...wieder einmal eine sehr differenzierte und empathische Skizze dieser "menschlichen" Gesellschaft und dabei ein überdeutliches Bild zeichnend! Bitte weiter schreiben...!!!S.L.

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  2. ich weine gleich!

    liebe grüße

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  3. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  4. Ups...wollte den Comment nicht löschen. Mist. Also nochmal...

    Du machst mich feucht...im Gesicht!

    liebe Grüße, Kontrastschiene

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  5. das hat mich gerade tatsächlich an ein gespräch mit einem obdachlosen erinnert!

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